Die Bedeutung des Jahreslaufes für die Entwicklung des Kindes
von Dagmar Ricard
Als ich mich das erste Mal in einem Waldorfkindergarten umsah, fragte ich, was im Laufe des Jahres alles getan würde, und man antwortete mir: „Eigentlich leben wir von einem Fest zum anderen.“ Ich konnte mit dieser Antwort wenig anfangen, erst durch meine Tätigkeit im Kindergarten wurde mir die Bedeutung dieses Satzes immer klarer.
Durch die Feste, die zur gleichen Zeit, in gleicher Weise erlebt werden, ist dem Jahr ein ganz fester Rhythmus gegeben. Rudolf Steiner sagt: „Rhythmus trägt Leben, er ist der Träger unserer Gesundheit.“ In diesem Satz liegt eine große Bedeutung für die Kindererziehung.
Da die Kinder sich nicht selber einen Rhythmus geben können, sondern von der Außenwelt abhängig sind, ist es von großer Wichtigkeit, dass wir Erwachsenen ihnen bewusst zu einem gesunden Rhythmus verhelfen. Je rhythmischer das Leben des kleinen Kindes verläuft, um so gesünder wird es sich entwickeln. Darum pflegen wir im Kindergarten den Tagesablauf, Wochenlauf und Jahreslauf ganz rhythmisch gleichbleibend. In der Art, wie wir in jeder Jahreszeit ein besonderes Fest feiern, können die Kinder ganz tief, aber unbewusst, die Jahreszeiten erleben. Durch das Spielen und Vorbereiten auf ein Jahresfest wird die Natur wahrgenommen und Sitten und Gebräuche werden gepflegt. Die Feste selber bedeuten gewisse Höhepunkte innerhalb eines Jahres. Genauso wichtig aber wie das Fest ist die Vorbereitungszeit, das Hinleben auf diesen Höhepunkt. Wir bereiten ein Fest etwa drei Wochen lang mit den Kindern vor, innerlich (durch Sprüche, Lieder, Märchen), sowie äußerlich (z. B. durch Basteln, Schmücken, Backen).
So haben wir in unserem Kindergartenalltag eigentlich immer ein Ziel vor uns, wir geben unserem Tun einen Sinn. Wenn dieses Ziel dann erreicht ist, so ist es für alle eine echte Erfüllung, denn jeder hat dazu beigetragen, dass wir dies Fest feiern können.
Richtig vertieft werden diese Eindrücke aber erst, wenn Kinder jedes Jahr in gewohnter Weise das Fest erleben können. Durch die Wiederholung erlangen die Kinder innere Sicherheit und Vertrauen zu der Welt. Wir haben es darum gerne, dass die Kinder zwei bis drei Jahre im Kindergarten sind. Mit Freude erkennen sie dann alles vom Vorjahr wieder und warten schon auf das kommende Fest. Da wird z. B. schon im Januar, wenn wir noch Handwerkerspiele machen, das Bettchen für den Kasper gerichtet, weil ja bald Fasching ist und der Kasper kommen soll. Oder wir erleben nach der Faschingszeit, während wir noch den Winterreigen machen, dass schon Osterlieder gesungen und Osterhasenbilder gemalt werden. Die Kinder leben vertrauensvoll, sie wissen, was als nächstes auf sie zukommt.
Unser Kindergartenjahr ist so anzusehen, dass es mit dem Erntedankfest beginnt. Wenn wir uns diese Jahreszeit anschauen, in der uns die Natur so überaus reich beschenkt, in der die Welt in leuchtenden Farben zu sehen ist, in der alles in Hülle und Fülle vorhanden ist, so empfinden wir ehrliche Dankbarkeit.
Dankbarkeit wird es sein, die als Seelenfähigkeit in die Kinderseele gelegt wird, wenn wir die Herbsteszeit mit den Kindern lebendig werden lassen. So aber, wie im Herbst die Dankbarkeit, so können wir mit jedem Fest eine bestimmte Seelenfähigkeit pflegen. Durch das richtige Feiern der Jahresfeste können wir im Kindesalter diese Kräfte veranlagen, so dass sie dem Menschen für sein ganzes Leben eigen sein können.
Im Jahresverlauf folgt dem Erntedankfest die Michaelszeit. Im Kindergarten wird der Sieg über das Böse (der Drachen) bildhaft erlebt im Reigenspiel und Märchen. Wenn wir uns in dieser Zeit mit dem Schmied und dem Eisen beschäftigen oder Pferdchenspiele machen, so wird für die Kinder erlebbar, dass Stärke und Mut gute Kräfte sein können. Mut ist die seelische Fähigkeit, die in der Michaelszeit lebt.
Nach dem Michaelsfest kommt die Zeit des Laternengehens, die mit dem Lichterfest (Lichterzug) endet. Die Laterne, vom Kind getragen, ist ein äußeres Sinnbild dessen, was wir Erwachsenen als inneres Licht, im Hinblick auf die Weihnachtszeit in uns tragen.
Die Adventszeit beginnt im Kindergarten mit dem Adventsgärtlein, der mit Tannengrün auf dem Boden ausgelegten Spirale, in der jedes Kind sein eigenes Lichtlein entzünden darf. In der Natur ist es ja bis zum 1. Advent langsam immer karger und dunkler geworden. Auch im Kindergarten ist immer weniger Schmuck zu sehen und das Spielzeug wird sauber verräumt. Aus dieser Dunkelheit und Armut heraus fängt nun das erste Licht zu leuchten an. Es ist ein äußerer Schein für das, was wir innerlich empfinden. Dann wird es langsam immer heller um uns; glänzender und strahlender wird es im Kindergarten durch Kerzen, Goldpapier und schöne Handarbeiten. Durch das Krippenspiel lassen wir die Kinder nachahmend erleben, mit welcher herzlichen Freude die lustigen Hirten das Kind begrüßen und ehren, ja wie alle Wesen auf der Erde sich an dem Christkind erfreuen. So gehen die Kinder innerlich vorbereitet, mit Liebe im Herzen, auf den Heiligen Abend zu. Mit gleicher Liebe und Hingabe können wir mit den Kindern dann nach Weihnachten auch im Dreikönigsspiel die Geschenke bringen, dann sieht man in den Gebärden der Kinder und in ihren Augen tiefe Verehrung.
Nach dieser langen Zeit der Verinnerlichung, in der die Natur alles behütet und beschützt unter der Erde, in der auch die Menschen besinnlich und ruhig geworden sind, leben wir auf eine Zeit der Entspannung zu, auf den Fasching.
Diese Zeit bedeutet Fröhlichkeit. Die Zimmer werden durch Girlanden immer bunter und alles wird für den Kasper geschmückt, der ja zu Besuch kommen soll. Ist der Kasper dann endlich da, tut er viele lustige Dinge, die den kindlichen Humor ansprechen: verstecken, necken, Worte verdrehen und vergessen, lustige Reime und Lieder singen und tanzen. Das Faschingsfest schließlich ist Kaspers Geburtstag, den wir alle schön verkleidet mit ihm feiern. In dieser freudigen Stimmung warten wir nun auf den Frühling, auf die ersten Blumenkeime, die wir selber in die Erde gelegt haben. Im Reigenspiel erleben wir aber auch noch wie der Winter mit dem Frühling reingen muss; die Eis- und Schneeriesen stapfen noch durch die Welt.
Dann aber zieht es uns stark in den Garten zu unseren Beeten hinaus. Wir bewundern jedes grüne Spitzchen, was sich da zeigt, und schauen unter den Tannenzweigen nach unseren Krokussen. Jedes Kind sät sich ein Schüsselchen mit Ostergras, pflegt, gießt und schneidet es.
Unsere ganze Seelenhaltung ist Freude über das Erwachen, das Auferstehen der Natur. So bereiten wir das Osterfest in den Kindern vor, welches dann zu Hause am Ostersonntag seinen Höhepunkt hat, indem sie die Eier suchen und finden (vielleicht sogar im eigenen Ostergras).
Nun, da die Natur wieder erwacht ist, leben wir ganz stark in ihr und mit ihr. Bis zur Pfingstzeit begleiten uns in unseren Spielen, Liedern und Geschichten ganz besonders die Tiere und Pflanzen. Gerade zur Pfingstzeit sind es die Vögel, die unserer inneren Stimmung entsprechen. Da ertönen im Kindergarten viele Vogellieder und -reime, kleine gebastelte Vögelchen aus Zapfen oder Schafwolle sind den Kindern ein liebes Spielzeug.
In der Sommerzeit gehen wir Menschen mit der Natur auf den Höhepunkt des Jahres zu, die Sommersonnenwende, Johanni. Die Natur ist zu einer gewissen Vollendung gekommen, sie zeigt sich in Pracht und Fülle. Am 24. Juni fahren wir mit den Kindern hinaus in die Natur, wandern sammeln Holz und entzünden ein Feuer. Im fröhlichen Reigen umtanzen wir das Feuer und singen unsere Johannilieder.
Unser Kindergartenjahr endet mit dem Fest des Abschiednehmens. Abschied von den Kindern, die in die Schule eintreten werden, und Abschied voneinander vor den langen Ferien. Ein fröhliches Sommerfest wird im Garten gefeiert, bei dem alle glücklich sind und sich auf den Neubeginn freuen.
Es ist ganz wichtig, wie wir die Jahresfeste gestalten. Immer soll dabei der ganze Mensch mit Leib, Seele und Geist gleichermaßen angesprochen werden. Also haben wir immer etwas Leckeres zu essen und zu trinken mit den Kindern bereitet, wobei man sehr schön Bräuche und Sitten pflegen kann, wie die Zubereitung von Martinshörnchen, Osterzopf usw.
Das Seelische sprechen wir an, indem wir z. B. das Zimmer mit Blumen schmücken, die Eier verzieren oder festliche Kleidung anlegen.
In den geistigen Bereich können wir hineinwirken durch unsere eigene Vorbereitung auf den tieferen Sinn des Festes, unsere innere Einstellung. Nur dann können wir eine Atmosphäre schaffen, die das ganze Kind im Innersten anspricht und erfasst. Als ein äußeres Zeichen für das hereinscheinende Licht zünden wir mit den Kindern die Kerzen an.
Wir Erwachsenen müssen uns die geistigen Hintergründe für die Jahresfeste erarbeiten, aber wir müssen sie kindgemäß gestalten. Das heißt, wir müssen alles so tun, dass das Kind es durch die Sinne und als Geste und Tätigkeit aufnehmen kann wie beim Laternenfest. So kann das Kind nachahmend, durch sein Tun, das erleben, was als Sinn für uns dahinter steckt.
Wenn wir so bildhaft und mit viel tätigem Geschehen die Feste gestalten, so können die Kinder, dank ihrer Nachahmungskräfte, mit uns durch das Jahr „von einem Fest zum anderen“ leben.
Dagmar Ricard