Wie sich das Krisen-Team mit der ganzen Schule in unbekannte Welten begab
Sonntag, 1. März
Die Faschingsferien gehen zu Ende. Eigentlich müsste das sonst übliche Vorbereiten auf den ersten Schultag die Lehrerköpfe mehr besetzen als irgendwelche Nachrichten. Diesmal ist es anders.
Da braut sich etwas zusammen. Nachrichten über eine neue Grippe-Epidemie sind im Umlauf. Noch weit weg. Irgendwo. Kommt es näher? Hat es mit uns zu tun?
Montag, 2. März
Unsere Schule profitiert jetzt von den Erfahrungen mit vergangenen Schließungen – Orkan, Baustellenpannen. Das neue Krisenteam bildet sich spontan aus jenen Menschen, die schon wissen, dass sie gebraucht werden. Erste Hygienemaßnahmen und Corona-Verhaltensregeln werden auf die Homepage gestellt.
Donnerstag, 5. März
Sue Pyrah kennt sich aus mit extremen Lagen. Sie lässt sich von Stefan Laumer das „Handbuch Betriebliche Pandemieplanung vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe“ (200 Seiten!) herunterladen und schreibt es übers Wochenende auf die Bedürfnisse unserer Schule um. Alles, was einem einfallen kann – bis hin zu: Wer gießt im Notfall die Pflanzen im Schulhaus, und wer füttert die Hühner? Das Schulleben läuft scheinbar unberührt weiter. In der Schulküche gibt es Lasagne mit Rindfleisch.
Freitag, 6. März
Was ist eine Risikoperson? Was sind Risikogebiete? Informationen kommen auf die Homepage, ein erstes Schreiben an die Schulgemeinschaft wird verfasst. Die Schule muss lernen, was eine Kontaktkette ist, wer K1 ist oder K2. Die Schulküche wird vorgewarnt, dass an einem der nächsten Schultage vielleicht keine Esser mehr kommen werden. Aus welcher Vorahnung nur? Noch läuft der Schulbetrieb weiter.
Samstag, 7. März
Der Pandemieplan für unsere Schule ist fertig. Das Krisenteam (Stefan Laumer, Klaus Seel, Susan Pyrah, Peter Hohage, Werner Miedl, später kommen hinzu: Lukas Hoyer von der Haustechnik, Sebastian Rothlauf als Kenner der Unterrichtsabläufe, Stefan Hoyer als Sicherheitsbeauftragter, Katharina Kaltenhäuser vom Elternrat, Alexander Ottlik als Psychologe, Arne Stüben als Jurist) richtet seine Kommunikationswege ein: interne Mailadressen, Threema-Gruppe.
Vor allem von den Behörden treffen die Nachrichten jetzt gefühlt im Minutentakt ein, 50 bis 70 am Tag. Man muss neu lernen, trotz des ständig brummenden Handys konzentriert zu arbeiten. Die Phantasie reicht nicht, um sich auszumalen, wie viele ungelöste Fragen und Aufgaben jetzt eintreffen. Fühlt sich an wie Hagel!
Sonntag, 8. März
Die Bombe platzt. Wir haben zwei nachgewiesene Covid-19 Fälle in unserer Schülerschaft! Sofortige Anweisung des Gesundheitsamts: Zumindest morgen bleibt die Schule zu. Warum passiert so etwas grundsätzlich am Wochenende? Wie erreichen wir jetzt alle Familien? Das Krisenteam eilt in die Schule. Die Klassen der beiden infizierten Schülerinnen (aber nicht nur die!) sind gesondert und einzeln zu informieren – sie sind jetzt K1 Kontaktpersonen, müssen in Quarantäne, ebenso ihre Lehrkräfte. Briefe an die Schulgemeinschaft sind zu formulieren – im richtigen Tonfall, ohne Panik zu erzeugen.
Die Lehrer müssen in ihre Aufgaben eingewiesen werden: Am Montag sind Kontaktpersonen der Infizierten zu ermitteln (Klassenbücher und Stundenpläne prüfen – bei den Mischgruppen wie Religion, Orchester und Theater wird es kompliziert! Wer blieb wann krank daheim und ist deshalb doch keine Kontaktperson?)
Montag, 9. März:
Der Tag beginnt damit, die Schüler, die vielleicht nichts mitbekommen haben, um 7.30 Uhr am Schultor abzufangen. Die jetzt ermittelten Kontaktpersonen werden informiert, dass sie in Quarantäne gehen müssen, das Gesundheitsamt muss, um sie zu testen, ihre Namen und Adressen erhalten. 20 bis 30 Behördenschreiben sind zu lesen, zu interpretieren, zu bearbeiten. Ebenso die Fragen besorgter Eltern und Kollegen. Dann kommt die Nachricht vom Gesundheitsamt, dass die Schule auch für den Rest der Woche geschlossen bleibt: Neue Rundschreiben verfassen und auf den Weg bringen. Die Putzkräfte reinigen und desinfizieren, was das Zeug hält. Zeitung und Rundfunk klopfen an.
Der Rest der Woche läuft im ähnlichen Rhythmus ab; langsam stellt sich etwas Routine ein. Zum Glück gehört niemand vom Krisenteam zu den Kontaktpersonen: Wir können weiterarbeiten! Für Angst vor eigener Ansteckung bleibt gar keine Zeit. Von den Behörden kommt die Anweisung zur Notfallbetreuung für die Kinder von Menschen mit „systemkritischen Berufen“. Kollegen müssen dafür gefunden und eingeteilt werden, die Richtlinien genau studiert und umgesetzt, Vordrucke mit den richtigen Fragen für die Anmeldung werden erstellt, die Übergabe der Kinder am Schultor ist zu regeln. Timo Karrock und Claudia Keller von den Kindertagesstätten kommen ins Krisenteam hinzu.
Eine Arbeitsteilung spielt sich ein, fast ohne Absprachen: Stefan Laumer liest die Behördenschreiben am genauesten, hält Kontakt mit der LAG und dem Bund, schaut besonders weit voraus, wacht über Liegengebliebenes. Werner Miedl ist eine der Brücken zu den KiTas, gestaltet die Homepage, studiert Vorschriften, unterstützt wo er nur kann. Sue Pyrah ergreift stillschweigend die Notfallbetreuung für die Schulkinder (eigentlich Arbeit für drei!). Klaus Seel kümmert sich um die Abiturienten und die Kontakte zu den Behörden, schreibt Rundbriefe. Peter Hohage schreibt Rundbriefe, leitet die Teamsitzungen, ist Kontaktperson zum Lehrerkollegium. Sebastian Rothlauf erstellt Stunden- und Raumpläne, warnt, wenn eine Idee nicht funktionieren wird und unterstützt zusammen mit Werner Miedl jeden, der es braucht, in Computerfragen. Lukas Hoyer sorgt für die Unterrichtsräume, sorgt für Wegweiser in den Gängen, Reinigungs- und Desinfektionsmaterial, schafft Infrastruktur. Stefan Hoyer weiß immer einen Rat, wenn wir uns unsicher sind, was man riskieren darf. Katharina Kaltenhäuser vermittelt uns die Elternsicht, hält den Kontakt zum Elternrat. Arne Stüben, ehemaliges Vorstandsmitglied und Justiziar bei einer ähnlich betroffenen Einrichtung, gibt juristischen Rat. Alle Themen kommen aber gemeinsam zur Sprache.
Die Teamsitzungen, längst schon online, verlaufen konzentriert und effizient. Die Last der Verantwortung ist fast körperlich zu spüren, aber die Nerven halten…
Untere Turnhalle: Aktueller Unterrichtsraum einer 4. Klasse (Bild: WM)
Samstag/Sonntag, 14./15. März:
Eine Fülle von Anträgen für die Notfallbetreuung trifft ein – den meisten fehlen nötige Angaben, um berechtigte von unberechtigten Anträgen zu unterscheiden. Rückfragen. Vielen Anträgen ist die Not der Eltern anzumerken – das Herz sagt: aufnehmen! Der Staat sagt: hart bleiben, es geht um Infektionsschutz, Regelverstöße werden bestraft! Nicht die sichtbare Not zählt, sondern das unsichtbare Infektionsrisiko. Seelisches Neuland für den Waldorfpädagogen.
Montag bis Freitag (16.-20.März):
Staat, Stadt, Land, aber auch der Bund der Freien Waldorfschulen, die Landesarbeitsgemeinschaft, der Rechtsanwalt der Schule erwachen vollends aus der Schockstarre und schicken viele Schreiben. Sehr viele.
Es kommt die Anweisung, von Zuhause aus Unterrichtsersatz übers Internet zu geben. Diese Arbeitsform ist den Kollegen nahe zu bringen. Manche haben sich schon selber geholfen, haben ihre private Ausrüstung durch private Freunde, Schülereltern oder im Eigenbau erweitert, Videokonferenz-Software installiert und gehen damit schon ganz selbstverständlich um. Andere fremdeln zunächst mit dieser Technik – aus gutem Grund, denn dass unsere Arbeit auf der direkten Wahrnehmung des Lehrer-Ichs durch die Schüler beruht, ist tief verinnerlichtes Grundprinzip unserer Pädagogik. Wie soll das denn via Internet gehen?
So muss sich zuerst jeder selber durchwursteln, für Absprachen und langes Nachdenken fehlt jetzt die Zeit, besondere Zeiten erfordern Kompromisse und Beweglichkeit – auch ein Vorteil für die hierarchiefreien Erziehungskünstler der Waldorfschule: Sie warten nicht lange auf Anweisung von oben, sondern fangen an. Jeder nach besten Kräften und Überzeugung. Ein bunter Flickenteppich entsteht, auf keinem Stundenplan abgebildet, von keinem Krisen-Lehrplan geführt – dafür ein fruchtbarer Boden für Neues. Corona wird zum Übungsfeld.
Ein erster Schritt: Die Kollegen dürfen ausnahmsweise nochmal in kleinen Gruppen aufs Gelände, um sich im CT-Raum in die Nutzung der neuen Schul-Cloud einweisen zu lassen.
Sebastian Rothlauf erstellt Schulungsvideos für die Kollegen, Werner Miedl erklärt im Schichtbetrieb und mit Engelsgeduld.
Viele Schüler/Klassen haben ihr Material noch in der Schule und dürfen nun nicht mehr hinein, um es zu holen. Kontaktfreie Übergaben sind zu regeln.
Der Blick auf unseren Schulkalender zeigt uns unerbittlich, was alles ausfallen muss – Klassenfahrten, Konzerte, Klassenspiele, privater Instrumentalunterricht. Eine Flut von Bitten um Ausnahmegenehmigungen muss abgelehnt werden. Für ein Achtklass-Spiel hängen schon die Plakate in den stillen Gängen – alles umsonst?
Sonntag, 22. März
Ein Teil der Kollegen lässt sich von den Anderen in die Nutzung von Zoom und anderen Konferenzprogrammen einweisen. Anleitungen werden geschrieben und verteilt. Um sich gegenüber rechtlichen Ansprüchen und staatlichen Forderungen absichern zu können, müssen die Ersatzunterrichte dokumentiert, die Dokumentationen von über 80 Lehrkräften gesammelt werden. Nicht jeder geht gleich darauf ein.
Langsam wird der Krisenalltag sichtbarer. Der eine Teil des Kollegiums beschult seine Klassen von zuhause aus, arbeitet sich ein in fremde Unterrichtsformen. Das bedeutet: das Unterrichten neu erfinden, das eigene Grundhandwerkszeug in wenigen Tagen neu erwerben.
Sie lernen, auf einem Bildschirm zu 26 kleinen Schülergesichtern eine liebevolle Beziehung aufzubauen, mit der Astralität und auch der Vorstellungskraft des Kindes aus der Ferne in inneren Kontakt zu treten, gleichzeitig aber die ungewohnte Software beherrschen lernen. Letzteres geht immer besser, das andere ist schwer oder kaum zu leisten. Alle bemerken, dass der Fernunterricht auch den Lehrer viel mehr Kraft kostet als die normale Arbeit.
Zahlreiche Telefonate kommen hinzu. Die Not mancher Elternhäuser kommt jetzt deutlicher zutage, macht betroffen. Corona als Chance für neue Nähe?
Der andere Teil des Kollegiums ist in der Schule beschäftigt: Viele Notfallbetreuungen (immer in kleinen Gruppen), Pflege des Schulgartens (der normalerweise von über 100 Schülern in Gang gehalten wird und nicht verwildern darf) durch Pädagogen.
Verwaltung, Reinigung, Instandhaltung der Gebäude und der Technik durch diejenigen, die das immer tun. Jetzt arbeiten sie in einer stillen Schule. Wo sind die Lehrer? Arbeiten sie gerade?
Sportunterricht ist nicht erlaubt – Obere Turnhalle: Aktueller Unterrichtsraum einer 4. Klasse (Bild: WM)
Eine surreale Zeit beginnt. Keiner kommt mehr ins belebte Lehrerzimmer und tauscht Erfahrungen aus. Man hört im Gang nicht mehr das Atmen der Schule durch die vielen Klassenzimmertüren. Stundenplan und Vertretungsplan zeigten einem das Tun der Kollegen immer an. Und jetzt? Jeder arbeitet woanders – alleine und auch wieder nicht. Der Kontakt ist ja da, mit den Schülern, den Kollegen. Doch alles bleibt virtuell.
Wie macht ein Eurythmielehrer Fernunterricht? Was kann der KüPra-Lehrer in dieser Situation tun, der Sprachgestalter? Sollte man die Schüler auch in Religion fernbeschulen? Muss man sich um gerecht verteilte Arbeitsbelastung kümmern, oder lieber darauf vertrauen, dass schon jeder nach seinen Möglichkeiten anpackt? Sind die Familien zu Hause schon überversorgt oder braucht es noch mehr? Katharina Kaltenhäuser vom Elternrat ist schon im Team, nutzt ihren Draht zum Elternrat. Eine Umfrage des Elternrats ist geplant.
Handarbeitslehrerinnen regen zum Maskennähen an. Die Heileurythmistin erstellt eine Anleitung für häusliche Heileurythmie. Später wird noch ein Übvideo des Sprachgestalters für die 9. Klasse hinzukommen.
Fühlt sich das Krisenteam überhaupt fachlich kompetent, solche Initiativen zu bewerten? Dennoch sind wir gefordert, pädagogische Initiativen gutzuheißen oder zu untersagen. Manchmal hat das Schicksal seinen eigenen Humor…
Die Osterferien nahen. Die Kollegen werden nochmal eingestimmt auf die Aufgaben, die uns nach den Ferien erwarten: Ende des „Akutmodus“, der Ersatzunterricht ist neu zu geifen. Auch die Schulgemeinschaft braucht einen Ausblick. Dann Ferien – gespannte Ruhe an den meisten Tagen, zwischendurch fünf Teamsitzungen zur Vorbereitung auf die neue Schulzeit.
Jetzt geht es um eine schrittweise Rückkehr der Schulklassen in die Schule, unter grotesk wirkenden Unterrichtsbedingungen: Infektionsvermeidung hat ein Gewicht bekommen, welches ich mir vor einem Monat in einer Schule nicht hätte vorstellen können.
In dieser Chronologie, die noch lange kein Ende gefunden hat, dürfen Bewunderung und Dankbarkeit nicht fehlen: Jeder war gefordert. Die Eltern zu Hause, unter Druck von verschiedensten Seiten. Die Lehrerkollegen, die ihre Überzeugungen und auch vieles, was sie gelernt hatten, über den Haufen werfen müssen. Die KiTa- Mitarbeiterinnen, für die es im enscheidenden Moment keinen Sicherheitsabstand und keine Schutzmasken gibt. Die nicht-pädagogischen Mitarbeiter, die in ihrer großen Treue die Stellung halten und sich ebenfalls mutig dem Infektionsrisiko stellen. Die Mitglieder des Krisenteams, die die Grenzen ihrer Belastbarkeit neu kennenlernen.
Dann sind da nicht zuletzt die Kinder, die noch nicht laut klagen, Dank ihrer Gabe, Gegebenheiten einfach als Gegebenheiten hinzunehmen. Aber man kann ihnen schon anmerken, dass eine Stimmung der Bedrohung und der Krankheit ihre Herzen zusammendrückt. Sie brauchen von uns Erwachsenen jetzt das Vorbild von Zuversicht, Besonnenheit und Handlungsstärke.
Die meisten Kritiken, die das Team erreichten, waren vermutlich berechtigt – die Danksagungen nicht minder. Beiden ist zu danken.
Besonders berührte mich, wie das Krisenteam in den ersten Wochen, als die Schule über Nacht in einen tumultartigen Stillstand geworfen worden war, durch das selbstverständliche Vertrauen der Schulgemeinschaft getragen wurde. Alle wirklich schmerzhaften Beschlüsse, alle wirklich schlechten Nachrichten, die wir herausgeben mussten, wurden letztlich hingenommen!
In der Krise zeigt sich der Charakter. Unsere Schulgemeinschaft hat ihn bewiesen! Sie wird ihn noch weiter brauchen.
Peter Hohage (L),
mit herzlichem Dank an Sue Pyrah (L) für ihre Notizen, und an Martina Hildebrand (L) für ihre redaktionelle Beratung!