Bei seiner Verabschiedung im Jahre 2002 wurde Herr Dr. Erich Heinermann nach 35 Jahren im Dienste unserer Schule so beschrieben: braungebrannt, mit jugendlichem Elan ausgestattet und von der Abiturzeitung zum am besten gekleideten Lehrer gekürt – ja: die Beurteilung der Lehrkräfte am Ende der Schulzeit ist tatsächlich nichts Neues – entspreche er so gar nicht den klischeehaften Vorstellungen eines Waldorflehrers zur damaligen Zeit. Am 25.11.2024 ist er nun über die Schwelle getreten. Hier rufen wir ihm nach:
Sein Weg zu uns
Als die Rudolf Steiner-Schule Nürnberg 1946 ihren Betrieb aufnahm war Erich 4 Jahre alt. Geboren wurde er am 11.10.1942 im Banat, ein multiethnisch besiedeltes Gebiet im heutigen Länderdreieck zwischen Ungarn, Serbien und Rumänien, das vom deutschen Reich unter der nationalsozialistischen Führung beherrscht war. Nach der Befreiung von der Nazidiktatur brachte die Vertreibung und Flucht der Deutschen aus dem Banat die Familie in die Nähe von Wien. Hier verbrachte er auch seine Kindheit und Jugend. Mit 17 Jahren legte er sein Abitur ab und begann an der Universität von Wien das Studium in den Fächern Deutsch, Geschichte und Philosophie, mit den Nebenfächern Latein und Kunstgeschichte. Bereits mit 22 Jahren promovierte er im Fach Geschichte und legte ein Jahr später das 2. Staatsexamen für das gymnasiale Lehramt ab.
Zwischen 1965 und 1967 unterrichtete Herr Dr. Erich Heinermann an einem Gymnasium in Wien und arbeitete nebenbei als Lektor für Deutsch als Fremdsprache an der Universität. Zu dieser Zeit wurde aber auch seine wohl bedeutenste biographische Weiche gestellt, die ihn auf die Geleise der Waldorfpädagogik leitete. Er lernte nämlich die ehemalige Waldorfschülerin und seine spätere Frau Elisabeth Weißert kennen, deren Vater Mitgründer und Vorstand des Bundes der Freien Waldorfschulen und auch Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft war. Ernst Weißert hatte als junger Mann noch Gelegenheit, Vorträge Rudolf Steiners zu hören. Auch die Heinermanns wurden später Mitglieder des Nürnberger Zweiges.
Neben der Pädagogik reizte Erich Heinermann an der Waldorfschule damals aber vor allem auch, dass im Rahmen der kollegialen Selbstverwaltung nicht nur den Schülerinnen und Schülern sondern auch den Lehrkräften die Möglichkeit gegeben wird, sich ganzheitlich zu entwickeln. Dass er dann im Herbst 1967 schließlich an der Nürnberger Rudolf Steiner-Schule seine Arbeit als Lehrer aufnahm, verdankten wir neben seiner Vorliebe für den süddeutschen Raum vor allem seinen Begegnungen mit bestimmten Menschen wie Herrn Dr. Bauer, Herrn Dr. Galsterer, Frau Wolf und Frau Schulz. Sie vermittelten ihm den Eindruck von Solidität und Kompetenz, und waren letztendlich ausschlaggebend dafür, die Angebote von anderen süddeutschen Waldorfschulen abzulehnen.
Lehrer macht Schule
So kam es, dass unsere Schülerschaft im September 1967 einen jungen Lehrer von noch nicht 25 Jahren begeistert empfangen haben. Sie erlebten einen sympathischen, verbindlichen und kompetenten Menschen, der ihnen stets zugewandt war und sie ruhig aber bestimmt mit seiner sonorigen Stimme ansprach. Er übernahm die Klassenbetreuung der 9. Klasse und unterrichtete die Fächer Deutsch, Geschichte, Kunst und Latein in der gesamten Oberstufe. Im Abiturbereich betreute er die Prüfungsfächer Deutsch und Geschichte bis in die 90er Jahre hinein.
Hier an unserer Schule setzte Herr Dr. Heinermann auch bald inhaltliche und über den Unterricht hinausgehende Schwerpunkte. Als leidenschaftlicher Skifahrer führte er in der 9. Klasse das Skilager ein, das dann später im Zuge eines gewandelten Umweltbewusstseins durch das heutige Forstpraktikum abgelöst wurde. Er war es auch, der in der 12. Klasse mit den Kunstfahrten begann, die heute zum Standardrepertoire unserer Schule gehören. Anfangs führten diese Fahrten meist nach Wien, später aber auch in Städte wie Prag, Amsterdam, Florenz und Rom. In diesem Schuljahr kehren wir somit zu unseren Wurzeln zurück, wenn wir nach sehr langer Zeit wieder einmal nach Wien fahren. Als weiteres wichtiges Element der Waldorfpädagogik belebte er das Theaterspiel in der 12. Klasse neu. Bereits in seinem 2. Jahr in Nürnberg inszenierte er Werfels „Jakobowsky und der Oberst“ und führte dann Jahr für Jahr das Spiel weiter.
Sein Ergreifen auch traditioneller Elemente der Waldorfpädagogik war aber nie gleichbedeutend mit starrem Festhalten und Festklammern. In den 90er Jahren gab er nach und nach die Abiturprüfungsfächer Deutsch und Geschichte an jüngere Kollegen ab und begann sich in neue Betätigungsfelder einzuarbeiten. Er rief beispielsweise den Philosophieunterricht in der 11. Klasse ins Leben, übernahm freien christlichen Religionsunterricht und wuchs auch immer mehr in die Kunstbetrachtungsepochen hinein. Auch dieser Impuls besteht mit der Ethik als Teilbereich der Philosophie fort, die seit längerem sowohl beim Realschulabschluss als auch im Abitur etabliert ist und im Zuge des G9-neu eine Aufwertung zum Leistungsfach erfuhr.
Mit 30 Schulleiter 30 Jahre lang
Herr Dr. Erich Heinermann hat unser Schulleben auch jenseits seiner Unterrichtstätigkeit stark mitgeprägt. Als 30-jähriger übernahm er das Amt des Schulleiters im Jahre 1972 von Herrn Dr. Galsterer und behielt es über einen Zeitraum von 30 Jahren hinweg. Damit gehörte er zweifellos zu den dienstältesten Schulleitern in Bayern. Freilich ist die Rolle des Schulleiters an einer Waldorfschule etwas anderes als die eines Direktors an einer staatlichen Schule. Der staatlich zu genehmigende Schulleiter wird vom Kollegium benannt und vertritt generell die Schule nach außen: er ist Ansprechpartner aller Schulbehörden, vom Schulamt über die Regierung bis hin zum Kultusministerium, er ist zuständig für alle schulrechtlichen Fragen und hat die Schule als Ganzes zu verantworten. Nach innen agiert er als Mitglied der Schulleitungskonferenz als Gleicher unter Gleichen.
Als erster Vertreter der Schule führt der Schulleiter auch die entsprechende Korrespondenz und ist verpflichtet an den Tagungen der Schulaufsicht teilzunehmen. Beaufsichtigt wird er direkt von dem oder der Ministerialbeauftragten der Gymnasien in Mittelfranken, die direkt dem oder der Kultusministerin unterstellt ist, im Bereich der Grundschule arbeitet er mit dem Direktorium des Staatlichen Schulamtes der Stadt Nürnberg zusammen. Eine der weiteren Aufgaben von Herrn Dr. Erich Heinermann war es damit auch, den Ablauf der Abiturprüfungen in Zusammenarbeit mit einer staatlichen Betreuungsschule zu regeln. Hier ließ sich erleben, wie hilfreich und entbürokratisierend seine langjährigen Erfahrungen, seine persönlichen Kontakte und sein guter Ruf bei diesen Gesprächen gewirkt und zum Wohl unserer Schülerinnen und Schüler beigetragen haben. Und falls es einmal zu Meinungsdifferenzen gekommen ist, was glücklicherweise seltenst vorkam, so konnte man sich getrost auf das diplomatische Geschick von Herrn Dr. Heinermann verlassen, der solche Probleme einvernehmlich zu lösen vermochte.
In seine 30-jährige Amtszeit fielen natürlich auch eine ganze Reihe von Schulreformen. So ist es beispielsweise ein Verdienst von Herrn Dr. Heinermann, dass die Rudolf Steiner-Schule Nürnberg im Jahre 1978 die erste Waldorfschule in Deutschland war, die das Kollegstufensystem in der Oberstufe eingeführt hat. Mit dieser Reform hat sich die Zahl unserer Abiturientinnen und Abiturienten von 20-25 auf 45-50 verdoppelt. Dies zu ermöglichen bedurfte der Abschaffung des Pflichtfachs Latein – mitgetragen vom Lateinlehrer Heinermann. Er konnte das Wohl des Schulganzen über seine eigenen Präferenzen stellen, selbst wenn es um die eigenen Unterrichtsfächer ging, für die jeder Lehrer immer besonders brennen muss.
Abgesehen von der Außenwirkung und der zu tragenden Letztverantwortung ist der Schulleiter an der Waldorfschule einfach ein Kollege: er ist in erster Linie Pädagoge, wenn auch mit einem etwas reduzierten Deputat. Erich Heinermann ist es jedoch gelungen, auch in der Innenwirkung ein Schulleiter im positivsten Sinne zu sein. In dieser Rolle trat er nicht als Direktor auf, der Anweisungen erteilte, sonder eher als Mediator, der es verstanden hat, Interessenskonflikte und Meinungsverschiedenheiten im Kollegium auszugleichen. So brachte er nicht selten nach hitziger Diskussionen in den Konferenzen dann gegen 21.55 Uhr mit der letzten Wortmeldung noch neue Aspekte ein, die alle Teilnehmer wieder auf den Boden brachten und einen versöhnlichen Ausgang der Konferenz sicherten. Mit seiner Besonnenheit und seinem diplomatischen Geschick trug er besonders zum Gelingen des kollegialen Miteinanders bei. Auch war er dem Kollegium höchst willkommen, wenn es darum ging Ansprachen zu übernehmen. Ob es dabei um die Einleitung zu den Weihnachtsspielen, Anfangs- und Abschlussfeiern oder generell um öffentliche Reden ging: Erich Heinermann war der Mann am Rednerpult, von dem sich das Kollegium repräsentiert fühlte.
Über die Schule hinaus
Ein letzter wichtiger Bereich in dem Herr Dr. Heinermann gewirkt und Maßstäbe gesetzt hat, ist sein überregionales Engagement für die Waldorfbewegung. Über einen Zeitraum von 20 Jahren hinweg, war er der Vertreter Bayerns im Bundesvorstand. Ebenso war er Mitbegründer der Landesarbeitsgemeinschaft der bayerischen Waldorfschulen. Man hätte ihn zur damaligen Zeit als unseren ständigen Vertreter im Kultusministerium bezeichnen können, wenn es um Schulgründungen ging oder wenn es galt, die Anliegen der Waldorfschulen nachvollziehbar zu machen und deren Ansehen zu erhöhen.
Mit viel persönlichem Einsatz übte er dieses überregionale Engagement mit Freude aus und führte es auch noch nach seinem Dienstende an der Schule fort. Er leitete die Landesarbeitsgemeinschaft geschäftsführend einige Jahre weiter und vertrat in dieser Funktion die bayerischen Waldorfschulen auch weiterhin als wichtiger Repräsentant unserer Schulbewegung.
In jeder unserer Konferenzen am Donnerstag gedenkt das Kollegium zu deren Totestag seiner Verstorbenen. Zu diesen Menschen, die über die Schwelle getreten sind, gehört mit Herrn Dr. Erich Heinermann nun ein weiterer, der sich in ganz besonderer Weise mit der Rudolf Steiner-Schule Nürnberg verbunden hatte. Sein Geist wird weiter wirken – Liebe strahlend.
Karl-Heinz – Charly – Schwab
(ehem. Ständiger Stellvertreter der Schulleiter Heinermann, Bartke, Seel)
Dr. Klaus-M. Seel
(Leiter der Rudolf Steiner-Schule Nürnberg)